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Diese Frauen begründen eine neue Laufkultur in Indien

  • 16.5.2025

Text: Khorshed Deboo
Fotos:
Prarthna Singh

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wird in Zusammenarbeit mit The Established veröffentlicht, einer in Mumbai ansässigen digitalen Plattform, die sich den Themen Kultur, Mode, Schönheit und Kunst widmet.

Wenn Garima Dhamija läuft, geht es ihr nicht nur um Distanz oder Tempo
 – sie sehnt sich nach Raum für sich selbst, für den Dialog. "Für Frauen in Indien ist das Laufen extrem befreiend", sagt die 51-jährige Marathonläuferin und Trainerin. "Einfach mal Zeit für sich zu haben, ist selten und damit fängt alles an. Und dann kommt das Erfolgserlebnis. Das gibt dir Bestätigung." Dhamija, die in Gurugram, am Rande von Delhi lebt, entdeckte das Laufen im Alter von 40 Jahren, als sie mit Depressionen und den Wechseljahren zu kämpfen hatte. Inzwischen ist sie über 100 Halbmarathons und 10 volle Marathons gelaufen, darunter Boston, wo sie zu den schnellsten Freizeitläufer:innen ihrer Altersgruppe gehörte.

Garima Dhamija und ihre Tochter Niharika gehörten zu den mehr als 3.000 Frauen, die an der Nike After Dark Tour in Mumbai teilnahmen.

"Für Frauen in Indien ist das Laufen extrem befreiend. Einfach mal Zeit für sich zu haben, ist selten und damit fängt alles an."

Garima Dhamija

"Im Dunkeln zu laufen, ist in Indien einfach nicht normal. Ich kann es mir nicht vorstellen, nicht einmal normales Gehen."

Garima Dhamija

Dhamija und ihre 25-jährige Tochter Niharika gehörten zu den mehr als 3.000 Frauen, die am 10. Mai 2025 an der Nike After Dark Tour in Mumbai teilnahmen, einem einzigartigen 10-Kilometer-Nachtlauf nur für Frauen, der an den Wahrzeichen der Stadt vorbeiführte. Dhamija erläutert: "Im Dunkeln zu laufen, ist in Indien einfach nicht normal. In meinem Wohnort gibt es einige kleine Nachtveranstaltungen, wo wir sicher laufen können. Darüber hinaus kann ich es mir nicht vorstellen, nicht einmal normales Gehen. Man hat das Gefühl, etwas nicht tun zu können, was eigentlich normal sein sollte."

Die After Dark Tour ist nicht nur der bisher größte 10-Kilometer-Lauf für Frauen in Indien, sondern steht auch für eine viel größere Bewegung. Überall in Indien schnüren sich Frauen die Schuhe, um ihre Körper und ihre Straßen zurückzuerobern. Ob bei Sonnenaufgang oder am Abend – bei diesen Läufen geht es um mehr als nur Fitness – es geht um Freiheit, Selbstbestimmung und Kameradschaft.

Gemeinsam stark

Mit einem Sonntagslauf stimmt sich Merlyn Matchavel auf eine arbeitsreiche Woche ein. So kann sie ruhiger und konzentrierter arbeiten. Die 35-jährige Brustkrebs-Chirurgin aus Mumbai begann vor etwas mehr als einem Jahr mit dem Laufen. "Nach dem jahrelangen Medizinstudium wusste ich, dass ich wieder etwas für meine Fitness tun musste", sagt sie. "Ich begann mit morgendlichen Spaziergängen und sah Läufer:innen … Ehrlich gesagt, hat mich das eingeschüchtert. Ich habe mich gefragt: Könnte ich das jemals schaffen?" Ihre erste Trainingseinheit bei Sisters in Sweat, der größten indischen Sport- und Wellness-Community nur für Frauen, ließ ihr den Atem stocken. "Ich konnte kaum eine Minute laufen, ohne aufhören zu wollen", sagt sie. "An manchen Tagen ist es anstrengend, aber durch das Laufen in einer Gruppe von Frauen habe ich eine enorme Disziplin und Durchhaltevermögen entwickelt. Es ist auch sehr ermutigend." So sehr, dass Matchavel sich auf ihren ersten Marathon vorbereitet, den sie im September in Berlin laufen wird.

"Der Austausch mit den Frauen der Sisters in Sweat-Community und das Laufen sind für mich eine Art Therapie. Ich liebe es, mich in guter Gesellschaft draußen aufzuhalten. Das ist pure Entspannung für mich", sagt Merlyn Matchavel.

"An manchen Tagen ist es anstrengend, aber durch das Laufen in einer Gruppe von Frauen habe ich eine enorme Disziplin und Durchhaltevermögen entwickelt. Es ist auch sehr ermutigend."

Merlyn Matchavel

Auf 42,195 Kilometer zu trainieren, findet sie manchmal beängstigend, aber ein Kaffee nach dem Lauf oder ein Frühstück mit ihren Mitläuferinnen ist Belohnung genug für die harte Arbeit. "Außerdem ist da noch das Element der Verantwortlichkeit. Wenn du deiner Freundin gesagt hast, dass du am nächsten Morgen mit ihr laufen gehst, kannst du sie nicht im Stich lassen. Du musst aufwachen."

Laufen wird oft als Einzelsport angesehen, aber das Unterstützungssystem beweist das Gegenteil – ob man nun mit Freund:innen oder in der Gesellschaft von Fremden trainiert. Dhamija erzählt von Frauen, die sie beim Laufen kennengelernt hat. Mittlerweile sind sie enge Freundinnen, die miteinander scherzen und sich über Pannen austauschen. "Wenn Frauen zusammen laufen, entsteht eine natürliche, unausgesprochene Verbundenheit", sagt sie. "Man kann über alles reden. Es kann sehr persönlich oder privat sein, und die andere Frau versteht es einfach. Ich habe beim Laufen mit Frauen, die ich überhaupt nicht kannte, so viele Gespräche über die Wechseljahre geführt – ein Thema, das immer noch totgeschwiegen wird. Ja, man kann über oberflächliche Dinge reden, aber eben auch über Themen, die dich wirklich beschäftigen."

Die Vorteile des Laufens sind sowohl physiologischer als auch emotionaler Natur. "Scheitern gehört zum Laufen dazu, auch wenn man sich anstrengt", fährt Dhamija fort, die derzeit ihren alternden Vater pflegt und gleichzeitig einen Vollzeitjob als Führungscoach und Mitbegründerin einer Personalberatungsfirma hat. "Wie man angesichts dieser Misserfolge gelassen bleibt? Da ist dieses Gefühl, dass man hart gearbeitet hat und dann einfach loslassen muss. Das ist das Wichtigste, was mich das Laufen gelehrt hat, abgesehen von Geduld."

Durch das Laufen gewinnt man nicht nur tiefe Einsichten und ein neues Gemeinschaftsgefühl, sondern auch einen neuen Blick auf die Stadt, eine Art Psychogeografie – Augen, Geist und Füße im Einklang – etwas, was die 30-jährige Mishti Khatri, Marathon-Trainerin und Nike Run Coach aus Mumbai, sehr beeindruckt. Die ersten ein bis zwei Kilometer sind immer schmerzhaft für Khatri, die mit dem Laufen begann, weil sie als Kind Angst davor hatte, aber es dauert nicht lange, bis sie ihren Rhythmus findet. "Früher schien es immer unmöglich. Aber jetzt ist das Laufen für mich wie eine Art Meditation in Bewegung. Es ist ein sehr glücklicher Zustand; ich blende die Welt aus", sagt sie. "Nach der Hälfte meines Laufs geht die Sonne auf. Dabei fühle ich, wie ich eine ansonsten wimmelnde Stadt in einem anderen Licht erlebe. Manchmal, wenn ich an meiner Laufstrecke vorbeifahre, denke ich mir: Verdammt, diese Strecke bin ich tatsächlich gelaufen. Durch das Laufen fühle ich mich stärker mit meiner Stadt verbunden."

"Beim Laufen geht es immer um dich selbst, und es ist ein Sport, den du buchstäblich überall und jederzeit ausüben kannst", sagt Nike Run Coach Mishti Khatri. "Es ist eine meiner Lieblingsmethoden, um Städte und Orte zu erkunden."

"Manchmal, wenn ich an meiner Laufstrecke vorbeifahre, denke ich mir: 'Verdammt, diese Strecke bin ich tatsächlich gelaufen.' Durch das Laufen fühle ich mich stärker mit meiner Stadt verbunden."

Mishti Khatri

Derzeit promoviert sie über Ausdauerleistung, den Menstruationszyklus und Nitrate. Sie möchte einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisten, der sich ausschließlich mit Athletinnen aus Indien befasst. Khatri bereitete die Teilnehmerinnen 10 Wochen lang auf die After Dark Tour vor. Die Trainingseinheiten begannen mit 40 Läuferinnen und wuchsen durch Mundpropaganda auf über 400 Läuferinnen an. Über 60 Prozent der Teilnehmerinnen bezeichneten sich als Laufanfängerinnen.

Eine bessere Zukunft für indische Läuferinnen

Das Laufen auf den Straßen der indischen Städte kann mit Risiken verbunden sein, insbesondere für Frauen. Für Dhamija wird sich ein echter Wandel vollziehen, wenn Frauen keine Angst mehr haben müssen, allein vor die Tür zu gehen, und sie trägt ihren Teil dazu bei, diesen Wandel herbeizuführen: "Vor einigen Jahren", erinnert sich Dhamija, "habe ich mich mit ein paar Frauen zusammengetan und einen sogenannten 'Shed-It Run' veranstaltet, bei dem man sein T-Shirt auszieht und im Sport-BH läuft, was damals in Indien nicht üblich war. Als die Organisator:innen zu mir kamen und mich fragten, ob ich mitmachen würde, habe ich nicht mit der Wimper gezuckt. Aber dann sprach ich mit meinen männlichen Freunden, die Läufer sind. Sie waren sehr besorgt, und zwar nicht nur um unsere Sicherheit. Das hat mich gestört. Da wusste ich, dass sich etwas ändern musste."

"Es ist so erfüllend zu sehen, wie Frauen zusammenkommen und diese Erfahrung machen. In den letzten 10 Wochen habe ich gesehen, wie ihr Selbstvertrauen gewachsen ist."

Mishti Khatri

Doch jede Runde steckt auch voller Optimismus. In Mumbai gründen junge Mädchen ihre eigenen Laufclubs und dokumentieren jeden schweißtreibenden Schritt in den Social Media. Viele von ihnen waren bei der Nike After Dark Tour in Mumbai dabei. Bei der Veranstaltung kamen Frauen verschiedener Generationen zusammen, um in einer schwülen, aber erheiternden Nacht auf die Straße zu gehen. "Es ist so erfüllend zu sehen, wie Frauen zusammenkommen und diese Erfahrung machen. In den letzten 10 Wochen habe ich gesehen, wie ihr Selbstvertrauen gewachsen ist", sagt Khatri. 

Während immer mehr Frauen in den indischen Städten quer durch alle Altersgruppen und Hintergründe auf dem Weg sind, Raum, Handlungsmöglichkeiten und ihre Identität zurückzuerobern, weist Dhamija auf die nach wie vor bestehenden Hürden hin: den Mangel an sicheren öffentlichen Räumen, kulturelle Stigmatisierung, Betreuungspflichten und die geringe Vertretung von Frauen in Coaching- und Führungspositionen. Sie glaubt, dass hyperlokale Gemeinschaften mit vertrauten Gesichtern und gemeinsamen Vorsätzen die Kultur verändern können. "In Haryana zum Beispiel ist es nicht neu, dass Frauen Sport treiben. Man braucht sich nur die Frauen im Wrestling anzusehen", sagt sie. "Breitensportprogramme und sogar Marken können dazu beitragen, den Laufsport auf die gleiche Weise zu normalisieren."

Sichtbarkeit ist nur ein Anfang. Die Zukunft des Laufsports in Indien hängt davon ab, ob eine wirklich integrative Bewegung gelingt, die Frauen nicht nur als Teilnehmerinnen, sondern auch als Entscheidungsträgerinnen, Trainerinnen und Architektinnen des Wandels begrüßt.

"Ob es nun um einen 10-km-Lauf geht oder um die Aufnahme in ein Olympiateam, ich finde es erfüllend zu helfen", sagt Nike Run Coach Diljeet Taylor.

Ein Beispiel für solch eine Wegbereiterin? Nike Run Coach Diljeet Taylor, die über 100 All-Americans trainiert hat. Als Head Coach der Nike After Dark Tour hat sie zudem das globale Trainingsprogramm entwickelt. Taylor wurde als Kind indischer Einwanderer in Kalifornien geboren und sprach nur Punjabi, als sie in die Grundschule kam. Erst als sie anfing, Wettkämpfe zu laufen – und zu gewinnen, ja sogar die Jungen zu schlagen – konnte sie sich endgültig durchsetzen. "Ich bin als junges Mädchen aufgewachsen, das nie indische Frauen im Sport gesehen hat. Frauen wurde sogar davon abgeraten", sagt sie. "Ich hatte das Gefühl, dass ich als indische Frau im Sport nicht wirklich dazugehöre." 

"Ich bin als junges Mädchen aufgewachsen, das nie indische Frauen im Sport gesehen hat. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht wirklich dazugehöre. Hier schließt sich für mich ein Kreis – und ich bin sehr stolz darauf, ein Teil davon zu sein."

Diljeet Taylor, Nike Run Coach

Taylor lebt jetzt in Utah, wo sie die Crosslauf- und Leichtathletik-Frauen der Division 1 der Brigham Young University trainiert. Sie ist 48 Stunden gereist, um an der After Dark Tour in Mumbai teilzunehmen. Hier schließt sich für mich ein Kreis – und ich bin sehr stolz darauf, ein Teil davon zu sein", sagt sie. Neben ihren offiziellen Aufgaben im Rahmen der After Dark Tour fand Taylor Zeit, am Wettkampftag mit Dhamija, Matchavel und Khatri zu frühstücken, mit denen sie sich in den Wochen zuvor einzeln per Video unterhalten hatte. Taylor weiß, dass das, was Frauen beim Überqueren der Ziellinie erleben, mehr als nur ein Sieg ist. "Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit, dass sie es geschafft haben, dass sie angetreten sind und es durchgezogen haben. Die meisten Menschen denken, das Runner's High sei die Euphorie beim Erreichen einer bestimmten Distanz oder eines bestimmten Tempos. Neben der Euphorie fühlt man den Stolz auf sich selbst", erklärt sie.

Dhamija kommt zu dem Schluss: "Wenn alles stimmt, kann sich der Freizeitlauf zu einer tiefgreifenden und transformativen Bewegung für Frauen in Indien entwickeln." Und die Pessimist:innen? Matchavel hat einen Ratschlag: "Ich habe gelernt, sie zu ignorieren und einfach sprachlos zu machen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Es ist ein stiller Sieg."

Die 10 km lange After Dark Tour war alles andere als ruhig, denn sie elektrisierte die Straßen von Mumbai mit einer Kakofonie von Jubelrufen und dem Stampfen von Sportschuhen auf dem Pflaster. Es wurde deutlich, dass indische Frauen leidenschaftlich gerne laufen – für sich selbst und füreinander. Und sie denken gar nicht daran, es langsamer angehen zu lassen.

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